1888 – 1889 Heidelberg
Im Wintersemester 1888/89 nimmt Landauer in Heidelberg das Studium der Philologie auf; zusammen mit seinem gleichaltrigen Vetter Siegfried, der das Medizinstudium beginnt, bewohnt er zwei Zimmer in der Karlstraße 12.
1889 – 1890 Berlin
Im Sommer 1889 verläßt Landauer nach zwei Semestern die Heidelberger Universität und setzt im Herbst sein Studium an der Berliner Friedrich Wilhelms Universität fort. Ein im heimischen Karlsruhe entstandener Artikel „Gedankensprünge“, der – so Landauer – „wirklich unglaublich verrückt, ein wirres Gemisch persönlicher lyrischer Ergüsse und aesthetisch-kritischer Betrachtung moderner Poesie (Ibsen etc.)“ verbindet (GL, Berlin, 22.9.1892 an Clara Tannhauser in: GLAA 72) zieht mit ihm in die Hauptstadt. Landauer schickt den Artikel an den bekannten Schriftsteller, Literatur- und Theaterkritiker Fritz Mauthner, der gerade im Oktober 1889 mit der Herausgabe seiner Zeitschrift Deutschland. Wochenschrift für Kunst, Litteratur, Wissenschaft und soziales Leben begonnen hat. Dieser hält den Artikel zwar nicht für druckreif, freut sich jedoch „unter so vielen unbrauchbaren Zusendungen Unbekannter auf eine individuelle Begabung zu stossen“ und bekundet sein prinzipielles Interesse, Landauer in irgend einer Weise für sein Blatt zu gewinnen (Landauer rekapituliert den Inhalt von Mauthners nicht erhaltenem Brief: GL, Berlin, 22.9.1892 an Clara Tannhauser in: GLAA 72). Bereits im November 1889 erscheint eine erste Buchbesprechung durch Landauer, der mit –l zeichnet, in Mauthners Blatt. Die nächsten Monate folgen zahlreiche weitere und im Januar 1890 der erste mit Namen gezeichnete Artikel „Über epische und dramatische Kunst“. Zwischen dem über zwanzig Jahre älteren Fritz Mauthner und Landauer entwickelt sich die nächsten Jahre eine enge Freundschaft, die erst mit Landauer Ermordung 1919 endet.
Ein im Frühjahr 1890 entstandener Artikel, der allerdings unveröffentlicht bleibt, belegt, daß sich Landauers Interessen nicht allein im literarischen Bereich bewegen, sondern auch ins weltanschauliche gehen. So heißt es in dem Manuskript „Ein Wort über die Feigheit“:
Warum ist unsere Generation so jämmerlich feig? Ist es wirklich, wie so oft vorgegeben wird, ein Druck von oben herunter, der das wahre Wort zurückhält, oder ist es aber innere knechtische Natur, die „Sclavenmoral“ unserer Zeit? Männer wie Schopenhauer und David Friedrich Strauss, auch Häckel in seinen beiden populären Werken – sie sprachen Worte, die gewiss auch heute noch der Überzeugung der übergrossen Mehrzahl aller modern Gebildeten entsprechen – warum sind diese Laute heute verstummt, woher diese erbärmliche Gedrücktheit und Heuchelei? Ein beliebiges Beispiel: In Joseph Kürschners reizendem Taschenkalender des neuen deutschen Reichstags findet sich auch eine Tabelle der konfessionellen Verhältnisse der Führer des deutschen Volkes, denn das sollen doch wohl unsere Reichsboten sein: unter 35 Socialdemokraten erklären sich 20 mit stolzem Freimut für konfessionslos. Diese zwanzig sind aber auch die einzigen, die diese Erklärung abgeben. Wer glaubt, dass es der Wahrheit entspricht, dass alle übrigen in ihrem Herzen Katholiken, Protestanten oder Juden sind? Warum treten diese andern an der Stelle, wo es sich gebührt, nicht ein für ihre heilige Überzeugung, für den Fortschritt, für die neue Religion, die nach ihrer Entstehung ringt und mutige Männer braucht?
(Hdschr. Manuskript GL „Ein Wort über die Feigheit“, datiert 2. Mai 1890 in: GLAJ 4).
Und wenn unsere Politiker für ihre Tätigkeit den Deckmantel der reizenden Opportunität um sich schlagen, wo bleiben die Dichter und Schriftsteller, die noch mehr berufen sind wie jene zur Führung der Völker durch Nacht zum Licht? Der Mann, der von allen orthodoxen Seelen so wütend befehdet wird, Henrik Ibsen – er ist nur der mutigste unter den Feigen. Er selbst gesteht es in einem Briefe an Georg Brandes ein, dass er nach der Pariser Commune für seine politischen Ideale nicht mehr einzutreten wage
1890 – 1891 Straßburg
Im August 1890 exmatrikuliert sich Landauer an der Berliner Universität und setzt sein Studium im Herbst des Jahres in Straßburg fort. Es plagen ihn vermehrt Zweifel am Ziele seines Studiums, Berufe wie Gymnasiallehrer oder Privatdozent erscheinen ihm inzwischen als völlig unmöglich und es drängt ihn mehr nach künstlerischer Arbeit, die aber für einen Lebenserwerb kaum ausreichen werde. Neben einer vermehrten Beschäftigung mit der Philosophie von u.a. Schopenhauer, Kant und Nietzsche erscheint auch Sozialistisches auf Landauers literarischem Speisezettel (v.a. August Bebels „Die Frau in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft“, bekannter unter dem in späteren Auflagen wieder hergestellten Originaltitel „Die Frau und der Socialismus“). Zur Sozialdemokratie hält Landauer allerdings eine skeptische Distanz:
dass die Entwicklung nicht anders vor sich gehen könne, als durch stets sich vergrössernde Concessionen, leugne ich unbedingt. Sowie der Zustand eintritt, und heute ist das z. B. der Fall, (wenn etwa in der Frage des Arbeiterschutzes die Interessen der Capitalisten und des Arbeiters schlechterdings sich nicht mehr vereinigen lassen) so ist das der Beweis, dass eine radicale Umwälzung, kurz eine ungeheure Revolution eintreten muss. Vorher war Flicken und Concession am Platz, nun nicht mehr.
(GL, Strassburg, 13.2.1891 an Alfred Moos in: GLAA 99, kursiv i.O. unterstrichen).
Mit dem Socialismus und Communismus gehe ich also ein gutes Stück Weg; ich fürchte aber, dass sich unsere Wege trennen werden, indem ich noch weiter gehe. Mit der heutigen Socialdemokratie wenigstens scheinen mir Materialismus, Militarismus, Puritanismus, Nüchternheit (im schlechten Sinne; ich kenne eine Nüchternheit, die ich sehr hoch stelle), Eudämonismus, Kunstfeindschaft unlöslich vereint. Schön wäre es, wenn sie darüber hinauskämen. Hoffnungsvolle Zeichen dafür sind da; siehe Bruno Wille. Auch Gerhart Hauptmann